Das “Attestat” von Gera

Die Anführungszeichen sollen vermitteln, dass das Wort Attestat nicht mehr Bestandteil der deutschen Gegenwartssprache ist. Synonyme sind Attest, Testat, Bescheinigung, Beglaubigung, Beurkundung, Zertifikat usw.

Das Fürstenhaus Reuß-Gera stellte Bessler am 9. Oktober 1712 ein “Attestat” aus, in dem bescheinigt wurde, dass das von ihm erfundene “Perpetuum Mobile” tatsächlich funktionierte. Der Wortlaut dieses Schriftstücks wurde dem Buch “Das Triumphirende Perpetuum Mobile Orffyreanum” entnommen, das Bessler während seines Aufenthalts in Kassel selbst verfasste und im Oktober 1719 drucken ließ. Das Digitalisierungszentrum der Universität Göttingen hat dieses Buch Seite für Seite eingescannt und bietet es als PDF-Download oder alternativ als CD-ROM an:
http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/pdf/?PPN=PPN513405828&DMDID=DMDLOG_0003
Geben Sie den Suchbegriff “Bessler” ein. Sie finden den Text des “Attestats” ab Seite 108.

Da das Buch nur 7 Jahre nach dem Ausstellungsdatum dieser Bescheinigung veröffentlicht wurde, lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ein solches Dokument tatsächlich existierte. Besslers Gegner haben das gewiss überprüft, indem sie bei den Unterzeichnern nachfragten. Sie wären damit sofort an die Öffentlichkeit gegangen, wenn es sich als Lüge herausgestellt hätte. Dennoch hielten sie das Attestat für ein wertloses Stück Papier, da es ihrer Meinung nach aus reiner Gefälligkeit ausgestellt worden war. 

Bessler, der bei einer Vorführung seiner Erfindung den anwesenden Fürsten um ein solches Zertifikat gebeten hatte, tat das vermutlich in der Hoffnung, dass sich damit künftig für ihn alle Türen öffnen würden. Rückblickend vermitteln dem Leser jedoch darin enthaltene Unterwürfigkeiten betreffend die “hochgräflichen Gnaden”, schwülstige Ausschmückungen und auch Seitenhiebe gegen seine Feinde, dass Bessler den Text damals selbst verfasst hatte und dass das Fürstenhaus lediglich seine Unterschrift darunter setzte. Wäre der Wortlaut dort formuliert worden, hätte man ganz sicher eine andere Sprache gewählt. Auch unterzeichnete der Fürst nicht selbst, sondern beauftragte damit seinen Kapelldirektor Emanuel Kegel. Jener tat das ostentativ nur als einer unter vielen und auch erst, nachdem Besslers Erfindung durch einen Fachmann untersucht worden war. Dabei handelte es sich um den Ingenieur Johann Adam Caff, dessen Name bei den Unterschriften auftaucht, die im oben erwähnten Buch dokumentiert sind.    

Dr. Johann Georg Pertsch
Johann Christoph Zopff
Heinrich Fischer
Oswald Leupold
Johann Adam Caff
Reinhold Richter
Christian Lange
Adolf Anshelm von Carlowitz
Emanuel Kegel
H. von Weißbach
Joachim Conrad Döring
N. Sturm
Georg-Heinrich Nollhard
J. Chilian Freysinger

Wichtigste Unterschrift ist die von Emanuel Kegel. Als Kapelldirektor des Fürstenhauses Reuß-Gera setzte er seinen Namen im Auftrag des Fürsten unter das Schriftstück. Daneben andere angesehene Persönlichkeiten dieser Zeit. So Dr. Johann Georg Pertsch, Hochschullehrer an der Universität Helmstedt, Adolf Anshelm von Carlowitz, Schlossherr von Pirna-Zuschendorf, Reinhold Richter, in dessen Freihaus das Besslerrad am 6. Juni 1712 seine Uraufführung erlebt hatte. Bei Christian Lange handelte es sich um den Vetter Besslers, bei dem dieser damals in der Geraer Rittergasse 6 wohnte. Last not least der Ingenieur Johann Adam Caff, der das Besslerrad im Auftrag des Fürstenhauses als Sachverständiger untersucht und einen Betrug ausgeschlossen hatte.

Caff, als “Hoch-Fürstlicher Sächsisch-Weißenfelsischer Landbaumeister, Mathematiker und Ingenieur” ausgewiesen, gehörte drei Jahre später auch zu den bestellten Personen, die bei der Überprüfung von Merseburg anwesend waren und dort das gemeinsame Protokoll unterzeichneten. Er hat Besslers Rad in Gera als Sachverständiger untersucht und einen Betrug definitiv ausgeschlossen. Auch wenn ihm ein Blick in das Innere aus den bereits bekannten Gründen nicht gestattet wurde, machte eine Überprüfung unter solchen Umständen dennoch Sinn. Es ging dabei nicht darum, das Funktionsprinzip zu ergründen, sondern festzustellen, ob es sich bei Besslers Erfindung um einen Schwindel handelte oder nicht.

Da das Geraer “Perpetuum Mobile” während seines Laufs beliebig umhergeschoben werden konnte und nur 10 Zentimeter dick war, schied eine äußere Kraftübertragung ebenso aus wie die Vorstellung, dass sich im Inneren ein laufender Mensch befunden haben könnte. Als Betrugsvariante blieb nur die Erklärung mit der zuvor aufgezogenen Feder. Ein Ingenieur als Mann der Praxis konnte das jedoch ausschließen. So ließ sich zweifelsfrei feststellen, dass das Rad (einschließlich seiner Achse) sich absolut frei drehte und dass eine Feder sich daher nicht an der ruhenden Umgebung hätte abstützen können. Auch wenn es physikalisch möglich gewesen wäre, dass im Inneren eine bewegliche große Masse als Widerlager diente, so passte das nicht zu dem Gesamtgewicht des Besslerrades. Ein Federantrieb kam aber auch deshalb nicht in Betracht, weil Caff wusste, welche Energie in ihm maximal gespeichert werden konnte und wie lange es gedauert hätte, bis diese völlig verbraucht gewesen wäre. Durch präzise Messungen konnte er in diesem Zusammenhang den Nachweis führen, dass die interne Antriebskraft während der gesamten Zeit konstant blieb und nicht stetig abnahm, wie das bei einer Feder der Fall ist. Caff, der das Rad nach Belieben anfassen, bremsen, stoppen, zurückdrehen usw. durfte, konnte dabei die sich bewegenden Gewichte im Inneren wahrnehmen und die von ihnen ausgehenden Impulse spüren. Auch konnte er so einen reproduzierbaren Zusammenhang zu den Aufprallgeräuschen herstellen. Am Ende war er sicher, dass nur diese Gewichte für die zeitlich unbegrenzte Rotation des Rades ursächlich waren.

Kommentierend möchte man hinzufügen, dass Probieren auch hier über Studieren ging. Es macht einen Unterschied, ob man etwas in natura sieht und daran Hand anlegen kann, oder ob es nur Gegenstand einer theoretischen Betrachtung ist, der es völlig an Daten mangelt und die sich daher auf Spekulationen stützen muss. Es gilt als gesichert, dass Caff den Untersuchungsauftrag gewissenhaft durchgeführt hat, denn er hätte sonst seine Reputation und die Gunst des Grafen riskiert. Das von ihm bescheinigte Ergebnis deckt sich mit den Resultaten der später in Merseburg und Kassel durchgeführten fachlichen Überprüfungen sowie insbesondere mit der Inaugenscheinnahme des inneren Mechanismus’ durch Landgraf Karl von Hessen-Cassel.*) Dies heute alles als Betrug abzutun, zeugt von der Unkenntnis festgestellter Fakten und ist Ausdruck einer selbstgefälligen Arroganz, der man durchaus das Attribut “dümmlich” zuweisen könnte. Warum Menschen sich so verhalten, wird vom Verfasser im Beitrag “War Bessler ein Betrüger?” näher beleuchtet.

*) Karl wollte sich als oberster Landesherr im August 1717 mit der Besichtigung des Besslerschen Mechanismus’ Gewissheit darüber verschaffen, dass dabei alles mit rechten Dingen zuging. Bessler, der von Karl wirtschaftlich abhängig war, musste diesem gegenüber nolens volens sein Geheimnis lüften. Der Einblick in das Innere des Rades beseitigte jedoch alle Zweifel, denn das Funktionsprinzip leuchtete dem Landgrafen sofort ein. Er hielt von Stund’ an seine schützende Hand über Bessler und stellte selbst am 27. Mai 1718 ein “Attestat” aus, das der Nachwelt erhalten geblieben ist. Es wurde als Carolo-Attestat in Buchform zu Papier gebracht. (Siehe dort.)

Mit der im Geraer “Attestat” enthaltenen überschwänglichen Beschreibung seines Rades, mit der von ihm beanspruchten “Göttlichen Gnade” sowie mit der Widmung “Gott zu Lob, Ruhm und Ehre” ging Bessler jedoch zu weit. Mit der von seinen Zeitgenossen als anmaßend empfundenen Einbeziehung Gottes bewirkte er das Gegenteil dessen, was er damit beabsichtigt hatte. Das Übermaß an Eigenlob, das auf diese Weise aus jeder Ritze drang, führte zu verbreitetem Unmut. Angesichts seiner immer wieder hervorgekehrten eigenen Religiosität wäre die Resonanz vermutlich anders ausgefallen, wenn Bessler seine Hochgefühle gezügelt und sich statt dessen an der biblischen Botschaft orientiert hätte, die im Neuen Testament mit dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner transportiert wird.

Zur Demonstration der eigenen Bildung war es damals üblich, französische und/oder lateinische Wörter in deutsche Sätze einfließen zu lassen. Davon hat auch Bessler Gebrauch gemacht. Da das für den Leser heute im Einzelfall das Verständnis erschwert, wurden solche Wörter vom Verfasser übersetzt und mit ihrer Herkunft versehen. Der Bezug wird jeweils über eckige Klammern hergestellt. 

Es folgt der Wortlaut des “Attestats”:

“Nachdem das so lange gesuchte und gewünschte Perpetuum Mobile durch Göttliche Gnade alhier zu Gera / neulichst nur erfunden und verfertiget worden / eine künstliche und höchst=nützliche Machine, welche ohne alle äusserliche Gewichte / Wind / Wasser und Feder=Werck durch einen gantz sonderbaren innerlichen Motum Perpetuum[1] ihr eignes Corpo[2] selbst in continuirlichem[3] Lauff nicht nur alleine erhält / beweget und umtreibet / sondern über dieses dazu noch andere Machinen / so grosse force[4] vonnöhten haben / (als Wasser=Künste / Mühlen / u.d.g.) zu treiben leicht capable[5] ist; und aber nun wider Vermuhten in allen benachbarten Gegenden schon sehr ruchtbar / auch Nachricht eingelauffen / wie einige von Erfinders so genanten Freunden / durch verschlagene occasion[6] sich gelüsten lassen / die Invention[7] gedachter Machine so zu sagen abzustehlen / und selbige sogar nach zu machen / auch auf andere Arth und Weise ihr Interesse alleine dabey eyfrigst zu suchen schon allbereit angefangen.

Als wird hingegen hiermit und Krafft dieses wohlbedächtig attestiret: daß Herr Dr. Johann Ernst Elias Orffyreus, Med.Pract. und Mathematicus, aus Ober=Laußnitz[8] gebürtig (so eine geraume Zeit alhier gewohnet / Sich auch jederzeit honnet[9] / Christlich / still und also aufgeführet / daß Ihme dißfalls[10] nichts als Liebes und Gutes nachzusagen) der durch Göttliche Gnade wahrhafftige Urheber / Erfinder und Verfertiger dieses so raren Wercks alleine ist und sonst kein anderer mehr / der sich etwan mittler Zeit / solcher Erfindung auch anmassen oder rühmen möchte! Gestalt dann mehrer=meldte[11] Machine, schon vom sechsten Junij an / dieses jetzt lauffenden 1712. Jahrs / alhier auf dem Niclaus=Berge in Herrn Richters Hause (auf welcher Stelle jetzo eine Kirche gebauet ist)[12] von obgedachten Herrn Orffyreo das erstemal im perfecten Lauff curieus[13] zu schauen verfertiget gewesen. Wie dann selbiges nicht alleine von Ihro Hoch=Gräfflichen Gnaden / der Hoch=Gräfl. Frau Witwen alhier / und Sr. Hoch=Gräfl. Gnaden des XXII.[14] (item XXIV.&c.) Herren Graffen zu etlichen malen in eigener hohen Person selbst gesehen / sondern auch mit deren gnädigen Consens[15] und Gutachten uns Endes=benamten sämbtlich gezeiget und gewiesen worden. Weswegen nun zu desto mehrer Beglaubigung / dieses Testimonium[16], Gott zu Lob / Ruhm und Ehre / dem Erfinder aber zu sonderbarem Schutz / Nutz / Recommendation[17] und Förderung / für allen respective[18] Hohen und Niedern / Kunst= und Weißheit=liebenden Personen ertheilet / auch hiernächst von Uns allerseits eigenhändig unterschrieben und besiegelt worden.
Geschehen zu Gera / den 9. Tag Octob. Anno 1712.” 


[1] “Motum Perpetuum” [lat. motus perpetuus] = andauernde Bewegung

[2]
“Corpo” (italienisch oder eingedeutschtes Latein), [lat. corpus] = Körper

[3]
“continuirlich” (franz. continuel), [lat. continuus] = fortgesetzt

[4] “force” (franz. und engl.), [lat. fortis] = Kraft, Stärke

[5] “capable” (franz. und engl.), [lat. capabilis] = fähig

[6]
“occasion” (franz. und engl.), [lat. occasio] = Gelegenheit, Möglichkeit

[7]
“Invention” (franz. und engl.), [lat. inventio] = Erfindung

[8]
“Ober-Laußnitz” ist die frühere Bezeichnung der heutigen Oberlausitz.

[9]
“honnet” (franz. honnête), [lat. honestus] = ehrlich, ehrbar

[10]
“dißfalls” = diesfalls = diesbezüglich

[11]
“mehrermeldte” - Die Definition dieses Wortes konnte bisher nicht zweifelsfrei geklärt werden, obwohl es bei einer Google-Recherche in zeitgenössischen Texten immer wieder gefunden wird.

Das Wort “mehrer” wurde damals auch alleine gebraucht und steht im “Attestat” ein zweites Mal vor  “Beglaubigung”. Es ist jedoch in keinem der dem Verfasser bekannten historischen Wörterbüchern zu finden. Wo es in Texten des 17. und 18. Jahrhunderts enthalten ist, lässt sich eine eindeutige Definition auch nicht aus den Satzzusammenhängen herleiten. Folgende Synonyme machen an unterschiedlichen Fundstellen einen gewissen Sinn: “Genau”, “detailliert”, “besonders”, “wertvoll”, “ehrenwert”.

Bei “meldte” liegt ein Bezug zu dem Verb “melden” nahe. Vermutlich handelt es sich um dessen partizipisches Adjektiv. Einen Hinweis liefert z.B. “Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 1. Leipzig 1793, S. 847”. Hier findet man zu “bemelden” folgenden Eintrag: “Bemêlden, verb. reg. act. von welchem im Oberdeutschen und den Hochdeutschen Kanzelleyen das Mittelwort bemeldet, für gemeldet, erwähnt, gedacht, üblich ist. Die bemeldete Sache.”

“Mehrermeldte” könnte also im Sinne von “detailliert erwähnt” gebraucht worden sein.
(Vielleicht gibt es Leser, die hier weiterhelfen könnten. Jeder Hinweis ist willkommen.)

[12] Der eingefärbte und in Klammern gesetzte Text erscheint im Buch als erklärende Fußnote und ist nicht Bestandteil des Geraer “Attestats” von 1712, denn mit dem Bau der Salvatorkirche wurde erst 1717 begonnen.

[13] “curieus” (franz. curieux, curieuse), [lat. curiosus] = neugierig, interessiert, seltsam

[14]
“Hochgräfl. Gnaden des XXII.” = Graf Heinrich XXII. (1680 - 1731). Im Hause Reuß hatten über die Jahrhunderte hinweg alle männlichen Nachkommen den Vornamen “Heinrich”. Weil das damals eine Selbstverständlichkeit war, hatte Bessler vermutlich auf die Nennung dieses Namens verzichtet. Dass er in Klammern den Zusatz “item XXIV.” (= ebenso XXIV.) einfügte, deutet darauf hin, dass der Graf zu dieser Zeit eines der Reußschen Nebenhäuser mitverwaltete.    

[15] “Consens” [lat. consensus] = Übereinstimmung, Zustimmung  

[16] “Testimonium” [lat.] = Zeugnis, Bestätigung 

[17]
“Recommendation” (mfranz. und engl.), [lat. (re)commendatio] = Empfehlung

[18] “respective” [mlat. respectivus] = beziehungsweise, mit anderen Worten, besser gesagt