Die Lüge der Magd

Im Herbst 1727 kam es zwischen Bessler und seiner Magd, Anne Rosine Mauersberger, zu schweren Zerwürfnissen. Frau Mauersberger war höchst erbost darüber, dass Bessler sie nach dem Tod seiner Ehefrau trotz einer längeren sexuellen Beziehung nicht heiraten wollte, sondern einer anderen Dame den Vorzug gab. Heftiger Zank und Streit führten schließlich zu einer fristlosen Beendigung des seit 16 Jahren bestandenen Arbeitsverhältnisses. Sofort nach ihrer Entlassung erstattete die Magd Strafanzeige gegen Bessler und beschuldigte ihn, dass der Langzeittest auf Schloss Weißenstein in Cassel von Anfang bis Ende ein Betrug gewesen sei. Sie behauptete, das Rad sei über eine verdeckt im Boden verlegte Welle mittels eines entfernt aufgestellten Tretrades durch Muskelkraft angetrieben worden. Die Einzelheiten finden Sie in der Biographie.

Wie nachfolgend detailliert dargelegt wird, entbehrt diese Anzeige rückblickend jeder Glaubwürdigkeit. Zwar ist das Rachemotiv der Magd offenkundig, es spielt aber bei einer analytischen Untersuchung des von ihr zu Protokoll gegebenen Sachverhalts keine Rolle. Gegen ihre Darstellung sprechen die Fakten. So ist dem Test von Cassel eine gründliche Prüfung vorangegangen, die ähnlich abgelaufen ist wie die in Merseburg. Eine größere Anzahl von Fachleuten hatte alles besichtigt und insbesondere die Lager des Rades sowie die Nachbarräume unter die Lupe genommen. (Ausdrücklich auch die Räume, die sich darunter und darüber befanden.) Die von Kritikern immer wieder kolportierte Darstellung, ein zweites Antriebsrad hätte sich in einem unmittelbar angrenzenden Zimmer befunden, ist daher schlichter Unsinn.

Besslers Rad lag lediglich mit seiner Achse auf einer hölzernen Stellage auf. Da es auf diese Weise über dem Boden schwebte, konnte man es rundherum in Augenschein nehmen, und genau das haben die anwesenden Personen getan. Selbstverständlich richtete sich dabei ihr Augenmerk auf die Frage, ob es irgendeine Kraftübertragung von außerhalb des Rades gab. Es wurde jedoch trotz intensiver Suche nichts gefunden. Die Zeugen waren sich nach erfolgter Inspektion darin einig, dass es außer den beiden Gleitlagern keine Verbindung zur ruhenden Umgebung gab. Diese Lager bestanden aus eisernen Achszapfen, die sich in offenen Buchsen drehten. Erstere waren fest mit der hölzernen Achse des Rades verbunden und hatten einen Durchmesser von ca. 3/4 Zoll. Die ebenfalls aus Eisen gefertigten Buchsen ruhten auf der Stellage und gestatteten jedermann den Blick auf die sich drehenden Zapfen. Am Ende der Überprüfung bestand bei den anwesenden Zeugen Übereinstimmung darin, dass Anhaltspunkte für eine Täuschung nicht erkennbar waren. Wenn Kritiker bzw. Spötter heute behaupten, Bessler hätte Zahnräder, Riemen, Seile oder dergleichen verwendet, um damit Kräfte von außen auf das Rad zu übertragen, (und die Zeugen müssten das übersehen haben), darf man das angesichts der überlieferten Fakten ohne Scheu als dummdreist bezeichnen. Hier reichen sich Ignoranz und Arroganz die Hand. Den damals anwesenden Wissenschaftlern und Ingenieuren wird so unterstellt, dass es sich dabei ausnahmslos um unfähige Tölpel gehandelt hat.

Weil man auf Schloss Weißenstein trotz der optischen Unauffälligkeiten auch solchen Skeptikern gerecht werden wollte, die nicht ausschließen mochten, dass Bessler den Magnetismus oder eine andere Art der unsichtbaren Kraftübertragung für sich nutzbar gemacht hatte, wurde das Rad nach erfolgreichem Lauf unter der Aufsicht aller anwesenden Zeugen an einen anderen Ort gebracht und dort erneut in Betrieb gesetzt. Dabei wurde jeder Handgriff Besslers genau beobachtet. Ein Antrieb über eine verborgene Welle war daher völlig ausgeschlossen. Erst nachdem die anwesenden Fachleute sicher waren, dass alles mit rechten Dingen zuging, wurde der Raum versiegelt und das Rad 54 Tage lang sich selbst überlassen.

Wenn man mal hypothetisch unterstellt, dass Bessler einen Weg gefunden hätte, um an allen Fachleuten vorbei doch den von der Magd behaupteten Antrieb zu realisieren, passen auch die anderen Fakten nicht dazu. So ist es äußerst unglaubwürdig, wie bei der öffentlichen Überprüfung der Informationsaustausch zwischen Bessler und der sich angeblich in einem anderen Raum auf dem Tretrad befindlichen Dame vor sich gegangen sein soll. Das Besslerrad wurde ja wiederholt angehalten, erneut gestartet, links- und rechtsherum laufen gelassen usw. Die Magd will durch Besslers Räuspern und Husten gewusst haben, was sie jeweils tun sollte. Da die Nachbarräume durch die Kommission untersucht worden waren, hätte sich das Tretrad also weit entfernt befunden haben müssen. Bessler wäre gezwungen gewesen, jedes Mal brüllend laut zu husten, denn im November stehen Fenster und Türen üblicherweise nicht offen. Es hätte mindestens drei verschiedene Arten des Hustens geben müssen. Also z.B. einmal für Start links, zweimal für Start rechts und dreimal für Stopp. Diese Gesetzmäßigkeit hätte die anwesenden Zeugen ganz sicher misstrauisch gemacht, denn sie wohnten der Vorführung ja eigens zu dem Zweck bei, mögliche Manipulationen aufzudecken. Beim geringsten Missverständnis wäre die Sache aufgeflogen. Zum Beispiel, wenn einer der anwesenden Herren gehustet hätte.

Die Welle hätte bei einer großen Entfernung entsprechend lang sein müssen. Damit sie sich nicht verdreht hätte, hätte sie nicht nur gehärtet werden, sondern auch einen ansehnlichen Durchmesser haben müssen. Länge und Dicke hätten sich enorm auf das Gewicht der Welle ausgewirkt, denn Eisen ist nun mal recht schwer. Um ein Durchbiegen zu vermeiden, hätte sie deshalb mehrfach gelagert sein müssen. Da es zu dieser Zeit nur Gleitlager gab, wären  große Reibungsverluste aufgetreten, die die Sache schon aus diesem Grund sehr fragwürdig erscheinen lassen.

Auch hätte sich bei einem hohen Gewicht der Welle die Massenträgheit unangenehm bemerkbar gemacht. Das Rad hätte damit nicht abrupt beschleunigt oder abgebremst werden können. Die Zeugen sprachen aber davon, dass das Rad nach dem Herunterfallen des ersten Gewichts sichtbar beschleunigt wurde. Wenn es denn so war, kann das von einem aufmerksamen Beobachter mühelos in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden. Eine präzise zeitliche Koordination wäre durch Husten auch dann nicht möglich gewesen, wenn sich die Magd tatsächlich im Nachbarraum befunden und die Trägheit der Welle keine Rolle gespielt hätte. Ein Beobachter sieht sehr wohl, ob ein Rad exakt in dem Moment beschleunigt wird, wo der Aufprall erfolgt, oder ob das zu einem anderen Zeitpunkt geschieht. Selbst Abweichungen von nur wenigen Millisekunden lassen sich optisch bereits wahrnehmen. Wie hätte die Magd das also derart zeitgenau bewerkstelligen sollen? Bei einem Tretrad muss die Person, die es mit dem Gewicht ihres Körpers antreibt, zum Starten oder Stoppen jedes Mal eine größere Lageveränderung vornehmen, die nicht nur Zeit kostet, sondern auch unkontrollierte Wackelbewegungen hervorruft.

Zu guterletzt sei darauf hingewiesen, dass das Rad in Cassel nicht nur von Bessler selbst, sondern auch von einzelnen Kommissionsmitgliedern in Bewegung gesetzt und wieder angehalten wurde. Jeder, der es wollte, konnte selbst Hand anlegen, das Rad nach Belieben in die eine oder andere Richtung starten und es jederzeit wieder stoppen. Man stelle sich den Dilettantismus vor, den es bedeutet hätte, wenn Bessler versucht hätte, das alles unter den kritischen Blicken der Fachleute mit Husten und Räuspern steuern zu wollen, ohne dabei aufzufallen. Eine absolut lächerliche Vorstellung.

Die Polizisten, bei denen die Anzeige erstattet worden war, haben diese ganzen Überlegungen nicht angestellt. Sie beschränkten sich auf die Vernehmung der Magd und glaubten deren Schilderungen. Sicher kann man das kritisieren, aber ein Vergleich mit unseren heutigen Strafverfolgungsbehörden wäre nicht angebracht. Zu Besslers Zeiten gab es noch so genannte Büttel, die hauptsächlich die Funktion eines Gemeindedieners hatten. Eine Polizeifunktion übten sie in der Regel nur nebenbei aus. In größeren Orten wurde dem Büttel ein Assistent zur Seite gestellt, aber beide kamen aus dem einfachen Volk und waren intellektuell gar nicht in der Lage, solche Sachverhalte zu erforschen oder gar naturwissenschaftlich zu bewerten. Ihren gezeigten Eifer bei der Festnahme Besslers wird man daher rückblickend als etwas ”tumb” bezeichnen dürfen. Zu ihrer Ehrenrettung könnte man ins Feld führen, dass der in Rede stehende Langzeittest zum Zeitpunkt der Anzeige bereits 10 Jahre zurücklag und es daher keine Sachbeweise mehr gab. Kritikwürdig ist allerdings, dass die Polizisten sich nicht die Mühe machten, die Zeugen dieses Testlaufs ausfindig zu machen und zum behaupteten Sachverhalt zu befragen. Dabei hätte sich nämlich sehr schnell herausgestellt, dass die Magd gelogen hatte. Zwar hat sie bei der Erstattung ihrer Anzeige Einfallsreichtum bewiesen, aber technisch sachverständige Personen, die selbst vor Ort die Dinge geprüft hatten, hätte sie nicht überzeugt. Dafür war sie schlicht nicht intelligent genug.

Jedenfalls eine abenteuerliche Geschichte, die Frau Mauersberger da zu Protokoll gegeben hat. Trotzdem wird sie von Historikern immer wieder gerne präsentiert, denn sie ist im Grunde ihre einzige Rechtfertigung für die von ihnen erfolgte Einschätzung Besslers als Scharlatan. Dabei lassen sie gerne unerwähnt, dass die Magd wegen ihrer Beteiligung an einer Kindestötung sowie ihres anschließenden Gefängnisaufenthalts einen zweifelhaften Ruf hatte. Nicht erwähnt wird weiterhin, dass sie sich bei ihrer polizeilichen Vernehmung in Widersprüche verwickelt hatte. Und zwar in einem entscheidenden Punkt. Während nämlich zu Beginn von einer vollständigen Täuschung  die Rede ist, kann man in einer späteren Passage ihrer Aussage lesen, dass Bessler sie um diese Mithilfe gebeten hätte, damit sich das Rad nicht zu sehr abnutzen und die lange Zeit des Dauertests auch wirklich schadlos überstehen würde. Daraus leitet sich zwangsläufig ab, dass seine Erfindung sehr wohl alleine gelaufen ist. Und nur daran ist die Nachwelt wirklich interessiert. Die Lesart deutscher Historiker steht also auf sehr tönernen Füßen und befindet sich im Widerspruch zu den getroffenen Feststellungen einer langen Liste von Augenzeugen. Unter ihnen Universitätsprofessoren, Wissenschaftler, Mathematiker, Ingenieure usw. Näheres finden Sie im Beitrag “Zeitzeugen” sowie im “Attestat von Gera”.

Es ist an der Zeit, dass die Dinge in den Geschichtsbüchern revidiert werden.