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Der Verfasser hält nichts davon, die Funktion des Besslerrades unter Ausklammerung der klassischen Mechanik erklären zu wollen. Er sieht daher keine Veranlassung, die Metaphysik zu bemühen oder sich gänzlich in den Bereich der Fantasy zu begeben. Diese Erfindung des frühen 18. Jahrhunderts nutzte ganz sicher keine Strahlung aus dem Weltall und war auch kein Beispiel für “Overunity”. Bessler hat sich als bodenständiger Mensch ausschließlich im Rahmen der handwerklichen Möglichkeiten seiner Zeit bewegt. Dass sein Rad nicht durch Antigravitation, Levitation, Skalarwellen, Vibrationen usw. in Rotation versetzt wurde, ergibt sich schlüssig daraus, dass man während einer Umdrehung acht Aufprallgeräusche hörte und dass der Erfinder anwesenden Personen einen Blick ins Radinnere verwehrte. Er brachte stets einen Sichtschutz an und tat das, weil das Funktionsprinzip von jedermann hätte nachgeahmt werden können. Der Ablauf muss also optisch leicht erfassbar gewesen sein. Gestützt wird diese Annahme durch die Äußerungen des Landgrafen Karl von Hessen-Cassel, der im August 1717 als Erster und Einziger den geheimen Mechanismus in Augenschein nehmen konnte und überrascht von seiner Einfachheit war. Er verstand das Funktionsprinzip sofort und zeigte sich verwundert, dass bisher noch niemand auf eine solche Lösung gekommen war. Seiner Aussage nach hätte jeder Zimmermannslehrling ein derartiges Rad bauen können.
Dabei sollte man sich jedoch nicht der Illusion hingeben, mit gesundem Menschenverstand und etwas Probieren sei die Sache an einem Nachmittag zu lösen. Bessler brauchte dazu 10 Jahre. Ein einfacher Aufbau, für den die Fähigkeiten eines Lehrlings ausreichen, bedeutet nicht automatisch, dass dieser auch das Prinzip entwickeln könnte, wenn es bis dato nicht bekannt war. Man denke zum Beispiel an den Flaschenzug oder die Dezimalwaage - einfach in der Herstellung, aber dennoch genial. Karls Äußerung ist ganz sicher nicht so zu verstehen, dass es sich bei Besslers Antrieb um eine simple Allerweltslösung gehandelt hat. Der Eindruck des Landgrafen dürfte maßgeblich dadurch beeinflusst worden sein, dass in dem doppelt mannshohen Rad alles sehr überschaubar war und dadurch unkompliziert wirkte. Simple Lösungen dürften von Bessler jedoch schon in den ersten Monaten seines Experimentierens alle überprüft und als untauglich abgehakt worden sein. Sein Verdienst war es, dennoch nicht aufgegeben, sondern letztlich die Schwierigkeiten überwunden zu haben, an denen alle vor und nach ihm gescheitert sind. Schwierigkeiten, von denen er lange Zeit glaubte, dass sie durch einen Fluch verursacht würden. Sie sind ein Indiz dafür, dass potentielle Erfinder ähnlichen Denkmustern unterworfen sind, die sie auch immer wieder ähnliche Irrwege beschreiten lassen. Der menschliche Verstand ist anscheinend damit überfordert, dem Funktionsprinzip des Besslerrades nur durch Grübeln auf die Spur zu kommen. Mehr als 300 Jahre erfolgloses Bemühen, dieses Prinzip neu zu entdecken, machen eine simple Antwort unwahrscheinlich. Dennoch stand es ganz sicher nicht im Widerspruch zur etablierten Physik.
Da das gesamte Rad von allen Seiten, (auch von unten), ungehindert zu besichtigen war, richtete sich die vorrangige Aufmerksamkeit der Betrachter auf die Lager, weil man hier am ehesten eine Kraftübertragung von außen vermuten konnte. In den Berichten der Zeitzeugen wird regelmäßig darauf Bezug genommen. Besonders ‘sGravesande beschrieb die Dinge sehr detailliert. Danach hatte die hölzerne Achse des bidirektionalen Besslerrades einen Durchmesser von 15 cm. Sie endete auf beiden Seiten in 3/4 Zoll starken Achszapfen aus Eisen, die sich in dazu passenden Buchsen drehten. Ganz einfache Gleitlager also, denn Kugel- oder Wälzlager gab es zu Besslers Zeiten noch nicht*). Die Buchsen, die ihrerseits auf einer hölzernen Stellage ruhten, waren offen, so dass man die sich drehenden Achszapfen sehen konnte. Die Zeugen sprachen ohne Ausnahme davon, dass Anhaltspunkte für eine Kraftübertragung von außerhalb des Rades definitiv nicht vorhanden waren. Seile, Riemen, Zahnräder und dergleichen hätte man sofort entdeckt.
*) Auch wenn es im Altertum bereits Methoden gab, um mit Kugeln die Reibung zu verringern, wird die Erfindung des Kugellagers durch Philip Vaughan heute mit dem Jahr 1791 datiert. Er ließ es 1794 patentieren. Bessler war zu diesem Zeitpunkt bereits seit 49 Jahren tot.
Ebenso kann man ausschließen, dass Vibrationen, Fliehkräfte, der Kreiseleffekt oder andere an rotierenden Körpern zu beobachtende Phänomene eine erwähnenswerte Rolle gespielt haben. Dafür bewegte sich das Besslerrad mit 20 Umdrehungen pro Minute, (= 3 Sekunden für eine Umdrehung), einfach zu langsam.
Naturwissenschaftlich nicht nachvollziehbar sind auch immer wieder zu hörende Spekulationen hinsichtlich des Pochwerks oder der Pendel. Für die Funktionsfähigkeit des Besslerrades waren sie überflüssig. Pochwerke wurden früher zum Beispiel zur Zerkleinerung von Kohle oder Erz eingesetzt. Es handelte sich dabei um vertikal angeordnete lange Hölzer mit quadratischem Querschnitt, die sich in einer Führung auf- und abbewegen konnten. Sie hatten seitlich eine Nase, mittels derer sie von einer sich drehenden Nockenwelle periodisch (langsam) angehoben und (schnell) wieder fallen gelassen wurden. An ihrem unteren Ende war ein eiserner Kopf befestigt, der genügend Festigkeit aufwies, um das Gestein zu zerschlagen. Man findet Pochwerke mit geringeren Abmessungen seit eh und je auch an Kinderspielzeugen wie kleinen Wasserrädern oder Miniaturdampfmaschinen. Sie demonstrieren auf einfache und doch unüberhörbare Weise, dass hier physikalische Arbeit verrichtet wird. Mehr wollte auch Bessler damit nicht erreichen. Das Pochwerk zeigte mit seinen stampfenden Hölzern, dass das rotierende Rad nicht nur sich selbst endlos bewegen konnte, sondern dass darüber hinaus Energie zur Nutzung für andere Zwecke zur Verfügung stand. Beim 54-tägigen Dauertest von Kassel ermöglichte das Pochwerk eine rein akustische Überwachung der Funktion, ohne jedes Mal den versiegelten Raum öffnen zu müssen. Bei der Prüfung im Grünen Hof von Merseburg wurden jedoch definitiv keine Stampfhölzer bewegt. Die gesamte Leistung des Rades wurde hier für das Anheben der Ziegelsteine gebraucht. Ebenso verhielt es sich, wenn Bessler mit einer archimedischen Schraube die Förderung von Wasser vorführte. Das Pochwerk hätte dabei das Rad nur unnötig geschwächt. Das Rad von Gera konnte während seines Laufs beliebig umhergeschoben werden. Ein Pochwerk befand sich nicht daran, denn es war nur 10 cm dick. Am nur 15 cm dicken Rad von Draschwitz, das u. a. von Leibniz besichtigt wurde, befand sich ebenfalls kein Pochwerk und auch kein Pendel.
Bei den Pendeln ist der Verfasser davon überzeugt, dass Bessler damit seinem Rad auf den überlieferten Zeichnungen einen wissenschaftlicheren Anstrich geben wollte, um so beim Betrachter mehr Ehrfurcht zu erzeugen. In den Zeugenberichten werden sie mit keinem Wort erwähnt. Es ist deshalb fraglich, ob sich in der Realität überhaupt jemals Pendel am Besslerrad befunden haben. Als schwingungsfähige Systeme mit eigener Resonanzfrequenz hätten Pendel die Bewegung des Rades nicht befördert, sondern behindert, denn Letzteres rotierte je nach Last mit unterschiedlichen Drehzahlen. Trotzdem werden dem Pendel auf manchen Websites, die sich mit Bessler befassen, atemberaubende Fähigkeiten zugeschrieben. Im Einzelfall wird sogar die Vermutung angestellt, die Schwingung des Pendels und eine des Pochwerks hätten eine Synergie gebildet. Solange solche Ideen den experimentellen Nachweis schuldig bleiben, sind sie reine Phantasie.
Generell gilt, dass mechanische Schwingungen durch Reibung und Luftwiderstand gebremst werden, weshalb man ohne äußere Energiezufuhr von gedämpften Schwingungen spricht. Damit eine Schwingung fortbesteht, muss ihr von außen ständig Energie zugeführt werden. Sie kann deshalb selbst keine zur Verfügung stellen und nicht ursächlich für die Bewegung des Besslerrades gewesen sein. Das unidirektionale Rad setzte sich nach dem Lösen der Bremse ohne Pendel von selbst in Bewegung.
Hobbyerfinder setzen zunehmend auch Simulationssoftware ein, um sich zeitraubendes Experimentieren zu ersparen. Bisher brachte das keinen Erfolg. Solche Programme sind (noch) nicht in der Lage, die unendlich vielen Möglichkeiten der Anordnung und Bewegung von Massen in einem Rad zu berechnen, wenn ihnen nicht mitgeteilt wird, wo diese Massen platziert und wie sie untereinander verbunden werden sollen. Das muss der Anwender nach wie vor selbst tun, und daran scheitert es. Wenn man der Software nur mitzuteilen brauchte, dass sie das Besslerrad neu erfinden soll, wäre es einfach.
Wegen des erwähnten Sichtschutzes, den Bessler bei Vorführungen anbrachte und der eine Nachahmung durch Andere verhindern sollte, lässt sich zusammenfassend alles ausschließen, was das menschliche Auge nicht wahrnehmen könnte. Also kein Magnetismus, keine Antigravitation, keine rätselhafte Magie usw. Alle bekannten Details lassen darauf schließen, dass der Antrieb durch die auf bewegliche Körper im Rad einwirkende Schwerkraft erfolgte. Es geht also bei der gesuchten Lösung “nur” um die Beantwortung der Frage, wie diese Körper im Verlaufe einer vollständigen Drehung bewegt wurden. Für immer wieder zu lesende Erklärungsversuche, die das beiseite lassen, dafür aber abenteuerliche Mutmaßungen anderer Art anstellen, gibt es bis heute keinen ernsthaften Anhaltspunkt.
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Da es nicht möglich ist, sich durch den Blick in ein Original-Besslerrad Gewissheit zu verschaffen, kann man hinsichtlich seiner Funktion nur spekulieren. Dabei bietet sich jenes Rad an, das sich nach beiden Seiten drehen konnte und das man mit Merseburg und Kassel verbindet. Von dieser Variante sind wesentlich mehr Details bekannt, während vom unidirektionalen Rad nur wenig überliefert ist. Zwar liegt es nahe, dass beide sich ein ähnliches Wirkprinzip zunutze machten, aber wegen ihrer unterschiedlichen Eigenschaften müssen sie auch einen voneinander abweichenden Mechanismus gehabt haben.
Das bidirektionale Rad lief nicht von selbst los. Ihm musste manuell eine geringe Anfangsgeschwindigkeit gegeben werden. Es drehte sich nur etwa halb so schnell wie sein unidirektionaler Vorgänger. Vermutlich deshalb, weil es während einer Umdrehung durch seine Massenträgheit mehrere Gleichgewichtszustände überbrücken musste. Diese waren nötig, um dem Anwender die Wahl zwischen einem Links- und einem Rechtslauf zu gestatten. Dazu wurde das Rad zunächst bis zum Stillstand abgebremst, bevor es dann in die gewünschte Richtung wieder gestartet werden konnte.
Da das bidirektionale Rad doppelt so dick wie sein Vorgänger war, geht der Verfasser davon aus, dass es zwei Ebenen sich bewegender Gewichte gab. Naheliegend ist, dass es sich dabei um eine Weiterentwicklung des ursprünglichen Rades gehandelt hat. Hierfür hatte Bessler zehn Jahre Entwicklungszeit gebraucht. Nicht vorstellbar ist, dass er in Obergreißlau innerhalb weniger Wochen für den Nachfolger einen völlig neuen Mechanismus erfand, zumal es per seiner eigenen Aussage nur ein mögliches Wirkprinzip für den Gravitationsantrieb geben sollte. Die doppelte Dicke wäre dadurch erklärlich, dass Bessler zwei Antriebe des unidirektionale Rades übereinander anordnete, wobei einer für den Rechts- und der andere für den Linkslauf zuständig war. Sollte das so gewesen sein, wären sogar 32 Gewichte zum Einsatz gekommen.
Auf der Seite 90 seiner Apologie schreibt Bessler, “Die Poltergeister frey spatziren - zum öfter’n durch verschloss’ne Thüren”. Dies spricht für einen Verriegelungsmechanismus, mit dem beim bidirektionalen Rad der Rechts- und Linkslauf gesteuert wurde. Wenn zwei Ebenen des einseitig rotierenden Rades übereinander angeordnet waren, muss in Abhängigkeit zum Drehsinn immer eine Ebene deaktiviert gewesen sein. Hierzu passt, dass Bessler bei einer Besichtigung des bidirektionalen Rades einen Besucher die hölzerne Achse befühlen ließ. Offenbar durfte dieser am Wachstuch vorbei ins Innere des Rades fassen. Dabei konnte er ertasten, dass die Achse mehrere Bohrungen aufwies. Bessler könnte hier Schnüre oder dünne Ketten hindurchgeführt haben, mit denen der vermutete Mechanismus zur Steuerung der Drehrichtung betätigt wurde.
Der Hund auch aus der Hütte kreucht, Doch nur so weit die Kette reicht. Die schönen Schãtze und Maschinen Weiß er sehr freundlich zu bedienen.
Gemäß dem Zeugen Wolff machte Bessler selbst kein Geheimnis daraus, dass der Antrieb seines Rades durch Gewichte erfolgte. Er zeigte in Merseburg einige dieser Gewichte her und ließ sie von Besuchern in die Hand nehmen. Jedes wog ca. 4 Pfund (2 kg). Nach mehreren übereinstimmenden Zeugenberichten hörte man während einer Umdrehung acht Aufprallgeräusche. Daraus zog man den Schluss, dass es sich auch um acht Einzelgewichte handelte, die im Inneren zyklisch “herunterfielen”. In diesem Kontext ist ein freier Fall jedoch sehr unwahrscheinlich, denn es wäre mit großen Verlusten verbunden, wenn man die kinetische Energie mittels eines Aufpralls in die Drehbewegung eines Rades umwandeln wollte. Ein erheblicher Teil dieser Energie würde in einer Deformation und Erwärmung des beteiligten Materials verloren gehen. Statt auf dem Boden aufzuprallen, könnten die Gewichte die Geräusche dadurch erzeugt haben, dass sie auf einer schiefen Ebene abrollten und am Ende anstießen.
Für diese ”Rolltheorie” spricht, dass im Inneren Rumpel- und Schürfgeräusche zu hören waren, wie sie zum Beispiel feste Körper erzeugen, wenn sie auf einer Holzbahn entlang laufen. Dennoch können rollende Körper, (wenn sie allein für die Drehbewegung ursächlich waren), sich auf schiefen Ebenen nicht nur dadurch bewegt haben, dass sie ausschließlich und direkt der Schwerkraft ausgesetzt waren. Dies wurde im Beitrag ”Untaugliches” bereits ausführlich dargelegt. Die bekannten Kugellaufmaschinen funktionierten aus diesem Grund alle nicht. Bessler muss darüber hinaus einen anderen Kniff angewendet haben. Da außer der Gravitation keine weiteren Kräfte beteiligt waren, könnte die Lösung darin bestanden haben, dass zumindest einige Gewichte von der Schwerkraft mittelbar bewegt wurden. Dies bedeutet, dass bewegliche Körper mit anderen mechanisch verbunden waren und durch Letztere so in ihren Positionen verändert wurden, dass insgesamt ein wiederkehrendes Ungleichgewicht im Rad entstand.
Gegen die Rolltheorie spricht, dass die von Bessler hergezeigten Gewichte zylinderförmig waren. Rollende Zylinder würden sich auf Holzbahnen sofort verkeilen. Wenn die Körper sich auf diese Weise bewegt hätten, hätte Bessler dafür bestimmt Kugeln genommen. Gegen ein Rollen spricht weiterhin, dass ein dafür geeigneter Körper sich auf einer mäßig geneigten schiefen Ebene viel zu langsam in Bewegung setzt. Da sich das unbelastete bidirektionale Rad in 2.2 Sekunden einmal drehte, standen bei 8 Gewichten für jedes einzelne noch nicht einmal 300 Millisekunden zur Verfügung, um sich zum Beispiel von der Zentrumsnähe zur Peripherie zu bewegen. Für eine schiefe Ebene eindeutig zu wenig Zeit. (Bei der Rückkehr von außen nach innen wird man unterstellen dürfen, dass sie sich zeitlich mit der Bewegung eines anderen Körpers überschnitt.) Ein freier Fall hätte zwar für genügend Beschleunigung gesorgt, aber die Aufprallgeräusche wären dann sicher enorm laut gewesen. Bei ihm ist man außerdem mehr als bei anderen Lösungsansätzen von der Beantwortung der Frage entfernt, wie die Gewichte so wieder nach oben befördert wurden, dass nicht nur eine ewige Bewegung garantiert war, sondern auch Energie für andere Zwecke zur Verfügung stand.
Indem Bessler vor einer Positionsveränderung des Rades Gewichte herausnahm, reduzierte er nicht nur dessen Gesamtgewicht, sondern er verlagerte auf diese Weise den Schwerpunkt des Rades nach unten. Das Risiko, dass das doppelt mannshohe Gebilde beim Tragen hätte umkippen können, wurde so minimiert. Auch ohne die Gewichte dürfte es für eine Einzelperson noch schwer genug gewesen sein.
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